Erklärung der jesidischen Zivilgesellschaft zum 10. Jahrestag des Völkermordes an den Jesiden

Heute, an diesem schmerzlichen zehnten Jahrestag, gedenken wir des Völkermords an den Jesiden durch den Islamischen Staat im Irak und in Syrien. Wir sind hier im Herzen unseres größten Schmerzes, im Land des Völkermords, in Sindschar, um die Welt an diese brutale Realität zu erinnern. Wir sind uns bewusst, dass viele an diesem Tag nur des Völkermordes gedenken, ohne die Tatsache anzuerkennen, dass er immer noch stattfindet. Unser Ziel ist es, den Blick der Welt auf den Völkermord zu verändern.

Wir sind heute zusammengekommen, um sicherzustellen, dass dieser Völkermord nicht nur eine weitere Zahl in der langen Geschichte der Völkermorde an diesem alten Volk des Nahen Ostens wird, das seit Jahrhunderten Opfer der Geschichte, der Geographie und der verschiedenen religiösen und nationalen Identitäten ist.

Während wir des ersten Jahrzehnts des Völkermords gedenken, den wir erlitten haben, möchten wir die internationale und lokale Gemeinschaft daran erinnern, dass der Völkermord nicht vorbei ist. Er dauert in all seinen Verzweigungen, Auswirkungen, Ursachen und in der Ideologie der Täter bis heute an.

Wenn wir an diesem zehnten Jahrestag über unseren Schmerz und unser Leid nachdenken, wissen wir, dass die Justiz noch immer nicht in der Lage ist, ihr volles Potenzial auszuschöpfen - nicht nur, wenn es darum geht, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern auch, wenn es darum geht, die Täter für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen und die Verantwortlichen zu bestrafen.

Ein Jahrzehnt ist vergangen, und während die Welt diesen Völkermord zu vergessen beginnt, werden immer noch fast dreitausend Jesidinnen und Jesiden vermisst, Dutzende von Massengräbern müssen noch exhumiert werden, und mehr als zweihunderttausend Menschen sind immer noch auf der Flucht, weil die Auseinandersetzungen um Sindschar weitergehen und die Vertriebenen und auch die Zurückgekehrten als Spielball in den Konflikten missbraucht werden.

Die jesidischen Werte bilden die Grundlage unseres Handelns, das von gemeinschaftlichem Engagement geprägt ist. Unser Ziel ist es, die Interessen der Jesiden durch gemeinsames Handeln zu vertreten und voranzubringen. Wir sind uns bewusst, dass Gerechtigkeit nur durch Einigkeit erreicht werden kann und dass dies eine echte kollektive Anstrengung erfordert.

Aus diesem Grund haben sich die Söhne und Töchter der jesidischen Gemeinschaft mit ihren führenden Persönlichkeiten, den Überlebenden sowie der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen, um einen Appell an das Gewissen des ehrenwerten irakischen Volkes aller Ethnien und Zugehörigkeiten sowie an die Regierung unseres Heimatlandes zu richten. Wir appellieren auch an die befreundeten Länder, ihre Regierungen und ihre Bevölkerung, die höchsten internationalen Prinzipien und Werte zum Schutz der Rechte und Freiheiten von Minderheiten zu achten, indem sie alle geeigneten Rechtsmechanismen und das einschlägige Völkerrecht anwenden.

Wir begrüßen die Anerkennung des Völkermordes durch zahlreiche Staaten und rufen alle anderen Länder auf, sich ebenfalls der Verbrechen an den Jesiden bewusst zu werden, den Völkermord anzuerkennen und diejenigen, die sich dem IS angeschlossen haben, vor Gericht zu stellen.

Wir bringen heute auch unsere Unzufriedenheit mit verschiedenen offiziellen und inoffiziellen Aktionen verschiedener Institutionen zum Ausdruck, die im Rahmen des Gedenkens an den Völkermord stattfinden, aber nicht zur Förderung der Prinzipien der Übergangsjustiz beitragen. Wir weisen darauf hin, dass einige Akteure sich erinnern wollen, uns aber gleichzeitig zum Vergessen auffordern. Die Versprechungen, die uns über einen Zeitraum von zehn Jahren gemacht wurden, sind nicht eingehalten worden.

Es gibt keine Garantie, dass sich Völkermorde nicht wiederholen. Die brutalen Folgen von Völkermord sind noch immer tägliche Realität. Die Entscheidungsträger stellen ihre politischen Interessen und ideologischen Neigungen immer wieder über die Institutionen, das Wohl der Menschen und die Gesetze.

Wir sind überzeugt, dass das Erreichen dieser ehrgeizigen humanitären Ziele Zusammenarbeit und gemeinsames Engagement erfordert. Deshalb möchten wir nun eine Reihe von Forderungen an die irakische Regierung und die internationale Gemeinschaft richten. Wir sind uns bewusst, dass wir dies nicht zum ersten Mal tun.

Erstens - An die internationale Gemeinschaft

Wir rufen die internationale Gemeinschaft dazu auf:

  1. Eine internationalen Konferenz der Außenminister aller jener Länder einzuberufen, die von der Problematik betroffen sind und derjenigen, die den Völkermord an den Jesiden al solchen anerkannt haben. Auch eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates könnte dazu beitragen, ernsthafte, klare und verbindliche Beschlüsse für die betroffenen Parteien zur Lösung der Situation zu finden. Wir möchten darauf hinweisen, dass die Jesiden gemäß den internationalen Normen und Gesetzen zum Schutz von Minderheiten und indigenen Völkern behandelt werden müssen und dass die Situation in Sindschar getrennt von den regionalen Konflikten gelöst werden muss.

  2. Einen internationalen Fonds für den Wiederaufbau von Sindschar unter der Schirmherrschaft der UN und mit irakischer Beteiligung einzurichten. Sein Ziel sollte der umfassende Wiederaufbau aller vom IS beschädigten oder zerstörten jesidischen Gebiete sein, einschließlich der öffentlichen und privaten Infrastruktur. Betroffene Bürger und Vertriebene sollen direkt unterstützt werden, um ihre Rückkehr zu erleichtern. Ein fester Prozentsatzes des irakischen Haushalts soll in den kommenden Jahren für einem solchen Fonds aufgewendet werden, zusammen mit Mitteln aus weiteren Ländern.

  3. Alle Länder, deren Staatsangehörige sich dem IS angeschlossen haben und die die Organisation in irgendeiner Weise unterstützt haben, müssen die Terroristen zur Rechenschaft ziehen. Ein internationaler Gerichtshofs oder eine Untersuchungsausschusses ist einzurichten. So soll die Arbeit des UN-Untersuchungsteams zur Aufklärung der von Da'esh/ISIL begangenen Verbrechen (UNITAD) nach Ablauf seines Mandats fortsetzt werden. Dazu bedarf es klarer Mechanismen, um Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, seien es Einzelpersonen, Institutionen oder politische Organe, die direkte oder indirekte Unterstützung geleistet haben.

Zweitens - Die irakische Regierung

Wir rufen die irakische Regierung dazu auf:

  1. Sinnvolle Schritte einer Übergangsjustiz nach dem Völkermord und in Übereinstimmung mit internationalen Standards umzusetzen. Dazu gehört, dass IS-Terroristen in fairen Gerichtsverfahren verfolgt und bestraft werden und dass sie nicht unter eine General- oder Sonderamnestie fallen. Zudem muss sichergestellt werden, dass sie nicht in politische Absprachen verwickelt werden. Der Wiederaufbau der jesidischen Gebiete, die gerechte und transparente Entschädigung der Überlebenden und anderer vom Genozid Betroffener, die rasche Umsetzung des Gesetzes über die Überlebenden der Jesiden und die Bereitstellung der notwendigen Haushaltsmittel müssen umgesetzt werden. Darüber hinaus fordern wir Verwaltungs- und Rechtsreformen, einschließlich der Verabschiedung eines Gesetzes, das den Völkermord an den Jesiden anerkennt, um künftige Verbrechen zu verhindern und die Jesiden zu schützen; die Durchsetzung von Gesetzen zur Verhinderung von Hassreden; die Stärkung der jesidischen Gemeinschaft und ihre Integration in die irakische Gesellschaft. Auch Bildungsreformen in den Lehrplänen der Schulen sind notwendig, um Gewalt und Extremismus in der irakischen Gesellschaft abzulehnen.

  2. Die Umwandlung von Sindschar in eine Provinz, um sicherzustellen, dass die Region von ihrer Bevölkerung verwaltet wird, die Befreiung von jahrzehntelanger Ungerechtigkeit und die Wiederherstellung von Gebieten, die von Sindschar abgetrennt wurden, wie der Unterbezirk Qahtaniya. Dies sollte als Wiedergutmachung für die Opfer der Bevölkerung von Sindschar geschehen und die Region von politischen, regionalen und konfessionellen Konflikten befreien. Die irakische Regierung muss ihrer Verantwortung gerecht werden, die Souveränität des irakischen Territoriums zu wahren, Angriffe, Bombenanschläge und Überfälle zu verhindern und sicherzustellen, dass Sindschar nicht zu einer regionalen Konfliktzone wird. Alle Parteien müssen die Tragödie der Jesiden respektieren und sie vor lokalen oder externen Konflikten schützen, zumal das jesidische Volk nie eine Bedrohung für ein Land, eine Region oder eine politische Gruppierung dargestellt hat.

  3. Erleichterung und Überwindung aller Hindernisse, die einer sicheren und freiwilligen Rückkehr der Vertriebenen entgegenstehen, durch Bereitstellung verbesserter Dienstleistungen und angemessener finanzieller Unterstützung für den Wiederaufbau dessen, was durch Terrorismus und Zeit zerstört wurde. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt jede Familie mindestens 15 Millionen irakische Dinar. Die Regierung sollte Mittel, Kredite oder Baumaterialien bereitstellen, insbesondere für diejenigen, die keine Wohnung haben oder deren Häuser zerstört wurden. Darüber hinaus fordern wir, dass die staatlichen und lokalen Behörden auf seriöse internationale und lokale Organisationen zurückgreifen, um den Bürgern bessere Dienstleistungen zu bieten.

  4. Das Problem der inneren Sicherheit im Sindschar muss durch die Schaffung eines legalen Mechanismus zur Integration der jesidischen Kräfte, die gegen den IS gekämpft haben, nach irakischen Rechtsstandards und in Anlehnung an ähnliche internationale Szenarien gelöst werden. Dies würde es den Menschen in der Region ermöglichen, die Sicherheit im Sindschar unter staatlicher Autorität zu gewährleisten. Wir fordern auch, dass die Regierung die Ungerechtigkeiten gegenüber den Jesiden bei der Vergabe von Arbeitsplätzen beseitigt, da sie in ihren Wohngebieten unter dem Vorwand von Minderheitenquoten benachteiligt werden. Die Jeziden machen mehr als 85% der Bevölkerung von Sindschar aus, erhalten aber weniger als 2% der Arbeitsplätze, die im Rahmen der Minderheitenquote zur Verfügung stehen.

  5. Beschleunigung der Exhumierung der verbleibenden Massengräber, Identifizierung der Opfer, Rückgabe ihrer sterblichen Überreste und Erleichterung der mit den Opfern verbundenen Verfahren in den zuständigen Dienststellen. Die ernsthafte Suche nach den restlichen Jesidinnen und Jesiden, die sich noch in der Gewalt des IS und seinen Anhängern befinden.

  6. Aktualisierung des irakischen Strafrechts, um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen als Straftatbestände aufzunehmen. Um die Mitglieder des IS angemessen und entsprechend ihrer Verbrechen zu verfolgen, sollte ein Sondertribunal mit internationaler Beteiligung eingerichtet werden, wie es in anderen Ländern, in denen Völkermord stattgefunden hat, der Fall ist.

Abschließend möchten wir heute vor der internationalen Gemeinschaft erklären, dass Sindschar und seine Bewohner dank ihrer Widerstandskraft überlebt haben. Der Wiederaufbau der Region ist eine moralische Verantwortung, die auf allen ruht.

Die jesidische Zivilgesellschaft

Stadt Sindschar

3. August 2024

Katrina Bartusis